@ CornusMas
Du richtest an Migranda u.a. diese Frage:
>>Wieso laufen Menschen bei „Querdenken“ mit, obwohl die Proteste von Rechtsradikalen unterwandert werden?<<
Es gibt dazu eine interessante Theorie, die auch in dem von Dir verlinkten Artikel kurz angerissen, in einem früheren Artikel jedoch ausführlich behandelt wird:
>>Was verbindet Esoterik und Rechtsextremismus?
Bei den Corona-Demos liefen Esoteriker*innen neben Neonazis mit. Wir haben mit einer Expertin darüber gesprochen, was sie ideologisch gemeinsam haben.<<
Interview von Franziska Koohestani
mit Jenny Willner, Dozentin für Komparatistik an der LMU. Sie unterrichtet psychoanalytische Literaturwissenschaft und forscht über Wissenschaftsgeschichte, Esoterik und politische Ideologie im 20. Jahrhundert.
jetzt.de/SZ vom 04.09.2020
Link: https://www.jetzt.de/politik/was-verbindet-esoterik-und-rechtsextremismus
Drei Auszüge:
>> ...Überschneidungen von Antisemitismus, Rassismus und Esoterik gab es schon Jahrzehnte vor dem Nationalsozialismus. Ich habe mich viel mit dieser Grauzone um 1900 befasst: In Form von Weltanschauungsliteratur, die oft ähnlich strukturiert ist wie Verschwörungstheorien. Zum Beispiel im Umfeld der Lebensreform-Bewegung, in der man Freikörperkultur und Vegetarismus propagierte – und das Impfen als eine Vergiftung sah, die natürliche Immunisierung verhindert. Für die Nazis galt Impfen später sogar als Bestandteil einer jüdischen Verschwörung. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Esoterik, Paranoia und völkischer Ideologie – aber der ist nicht geradlinig. Die Alternativmedizin und auch Teile der Reformpädagogik und der Ökologiebewegung haben diese Geschichte bis heute nie richtig aufgearbeitet. Das alles hat einiges gemeinsam mit dem, was wir jetzt sehen. ...<<
>> ... in der Gesellschaft [entstand] der Wunsch nach einem einheitlichen und anschaulichen Weltbild. Dieses Bedürfnis wird mit dem neuen Virus wieder akut. Es ist schwer, damit klarzukommen, dass wir wenig über Corona wissen, und dass naturwissenschaftliche Forschung erstmal zu vorläufigen Ergebnissen führt. Wesentlich sind aber auch Probleme, die nur gesellschaftswissenschaftlich erklärt werden können. Es ist doch alles furchtbar gerade: die Auflösung sozialer Sicherheitssysteme, die Zunahme prekärer Lebensläufe, auch wie der Einzelne dauernd unter Kontrolle steht, Hartz IV, Abstiegsängste. Mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Corona verschärft sich das alles. Und die neoliberale Ideologie, derzufolge man selbst für sein Glück zuständig sei, ist da auch nicht gerade hilfreich.
Inwiefern?
Das erzeugt Druck. Und bedeutet im Umkehrschluss: Du bist selbst schuld, wenn es schiefläuft. Wie auch schon vor 100 Jahren gibt es also Gründe, unzufrieden zu sein, zu protestieren. Was sich aber gerade lärmend bemerkbar macht, dieser ‚Corona-Soundtrack‘, ist eine wahnhafte Reaktion darauf. Die Not ist wirklich, aber man kommt nicht einmal an sie heran. So wahnhaft ist die Reaktion. ...<<
>> ... Woran zeigt sich Paranoia denn im Zusammenhang mit den Demonstrationen noch?
Beim Thema Antisemitismus. Paranoia funktioniert ja über Projektion: Anstatt das System, an dem man selbst teilhat, zu kritisieren, wird die Gefahr auf jemanden projiziert. Dieser jemand muss gierig, berechnend, zersetzend, unnatürlich, pervers, vergiftend sein – ihn kann man bekämpfen, ihn darf man hassen. Nicht jede paranoide Schuldzuweisung ist antisemitisch. Aber daran anschlussfähig. Denn der Antisemitismus sitzt historisch sehr tief. Schon in den Theorien über Strippenzieher und geheime Seilschaften kommt er wieder hoch. Und das Ausmaß an auch offenem Antisemitismus bei den Demonstrationen ist das Bedrohlichste an der ganzen Sache.<<
Den Artikel unbedingt in der Gänze (also auch den großen Teil vom Anfang, den ich hier nicht zitiert habe) lesen - sehr aufschlussreich!