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Kann man sich mit über 60 noch verlieben?

Kann man sich mit über 60 noch verlieben?

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Wir haben bei unserem Beziehungsexperten, Psychotherapeut Dr. med. Stefan Woinoff, nachgefragt. Das große Interview in 5 Teilen.

 

Hier stellen wir jede Woche neue Fragen an Dr. Woinoff rund um die Themen Partnersuche, Liebe und Beziehungen und teilen seine Antworten und wertvolle Tipps für alle auf der Suche nach einem neuen Partner.

 

50plus-Treff:  Dr. Woinoff, Was beeinflusst die Partnerwahl?

 

 

Das ist ein sehr weites Feld. Über die Kriterien der Partnerwahl wurde und wird viel geforscht. Mein erstes Buch „Überlisten Sie ihr Beuteschema. Warum immer mehr Frauen keinen Partner finden und was sie dagegen tun können.“ handelt auch u.a. von dieser Frage.

 

Grob kann man drei Einflüsse benennen:

Erstens das „archaische Beuteschema“, also die Partnerwahlkriterien, die sich evolutionsbiologisch entwickelt haben. Das sind die Kriterien, die die besten Zeugungs-, Geburts- und Überlebenschancen für ein gemeinsames Kind garantierten. Männer suchen sich entsprechend Frauen, die fruchtbar wirken. Die Zeichen der Fruchtbarkeit empfinden Männer bei einer Frau, etwas vereinfacht, als attraktiv: Jung, nicht zu dick und nicht zu dünn, ausgebildete Brüste, schmale Taille (also nicht bereits schwanger), breiteres Becken (gebärfreudig) etc. Frauen suchen sich dagegen Männer, wieder vereinfacht ausgedrückt, die potent genug sind, ein Kind zeugen können, und dann bei ihr bleiben und sie und das Kind beschützen und ernähren können und wollen. Also nicht zu alte Männer, die über Ressourcen verfügen bzw. einen möglichst hohen Status haben, aber auch zuverlässig und treu sind.

 

Zweitens wird die Partnerwahl durch frühe Prägungen in Kindheit und Jugend beeinflusst. Nicht selten sehen die Partner bzw. Partnerinnen dem gegengeschlechtlichen Elternteil ähnlich, oder haben ähnliche Charaktermerkmale oder Eigenheiten. Manchmal prägt auch die allererste Liebe alle anderen Lieben danach, wie z.B. bei Boris Becker, der nach seiner ersten Liebe zu Barbara bis heute immer wieder Frauen wählt, die Babs ähnlich sehen.

 

In diesem Bereich entstehen leider auch viele Anlässe für Beziehungsunglück: Die Tochter eines alkoholkranken Vaters verliebt sich immer wieder in Männer mit Suchtproblematiken, der Mann mit der dominanten und übergriffigen Mutter sucht sich unbewusst wieder genau so eine Partnerin, und leidet natürlich wieder unter dieser Art etc.

 

Drittens beeinflussen aktuelle Moden, Schönheitsideale und auch Prominente das Verhalten bei der Partnerwahl. Ein Mann, der Brad Pitt oder George Clooney ähnlichsieht, erscheint schon allein deswegen attraktiv, in 50er Jahren des letzten Jahrhunderts durften Frauen gerne etwas fülliger sein als heutzutage in den Zeiten von GNTM. Heute erscheinen braun gebrannte Menschen eher attraktiv, weil sie sich offensichtlich genügend Urlaub leisten können, früher wirkten Menschen mit der „vornehmen Blässe“ anziehend, weil sie nicht auf dem Feld arbeiten mussten etc.

 

 

50plus-Treff:  Dr. Woinoff, wie verändert sich die Liebe im Alter?

 

Die Liebe verändert sich im Alter deutlich weniger als allgemein angenommen. Ein frisch verliebtes 60jähriges Paar verhält sich nicht entscheidend anders als ein frisch verliebtes 30jähriges Paar. Vielleicht etwas weniger Sexualität, dafür etwas mehr Zärtlichkeit. Vielleicht sind beide durch frühere Beziehungen auch etwas vorsichtiger und etwas klüger im Umgang mit dem Gegenüber als ein junges Paar.

 

Viele Paare, das sich jenseits der 50er neu gefunden hat, gleichen einem jungen Studentenpaar: Jeder hat sein eigenes Leben, es gibt keine Planung für eine gemeinsame Familiengründung (noch nicht bzw. nicht mehr), jeder lässt dem anderen viel Freiraum für seine eigenen Aktivitäten und bewertet den andern nicht nach den klassischen Familien-Gründungs-Kriterien (siehe oben), und man macht nur das gemeinsam, was gemeinsam auch Spaß macht und funktioniert. Zusammen-ziehen kann, muss aber nicht sein oder wird in eine unbestimmte Zukunft verlegt.

 

Allerdings spielen die Kinder aus früheren Beziehungen eine nicht unerhebliche Rolle, insbesondere, wenn sie noch bei einem oder beiden frisch Verliebten leben. Das kann eine bereichernde, aber auch eine erschwerende Komponente sein. Wichtig ist, dass auch ein frisch verliebtes Paar die Priorität der jeweils eigenen Kinder vor dem neuen Partner/der neuen Partnerin anerkennt. Wenn man diese Einstellung beim Partner bzw. der Partnerin spürt und auch selbst vermittelt, kommt es nur selten zu Streitigkeiten um die Vorrangstellung und zu Konkurrenzen zwischen Kindern und neuem Partner bzw. neuer Partnerin.

 

Das, was sich tatsächlich sehr verändern kann, ist alternde Liebe, also ein Paar, das schon lange zusammen ist und dessen Liebe in die Jahre gekommen ist. Aber das war ja nicht die Frage.

 

 

50plus-Treff:  Kann man sich mit über 60 noch verlieben?

 

Das Bedürfnis nach Liebe und die Fähigkeit, sich zu verlieben und zu lieben, hört nie auf, nicht mit 60, 70 oder 80 und darüber. Nicht wenige Menschen verlieben sich erst jenseits der 50 das erste Mal so richtig, bei manchen nimmt zwar mit dem Alter das Maß an Verliebtheit zu Beginn einer neuen Beziehung ab, aber die ruhigere und nachhaltigere Liebe empfinden sie dafür umso intensiver.

 

Nicht jede Liebe muss der gewohnten „Hollywood-Romantik“-Dramaturgie folgen: Erst das dramatische Hochgebirge der Verliebtheit, dann der leichte, manchmal auch etwas ernüchternde Abstieg auf das stabilere Hochplateau der echten Liebe. Manche Paare erreichen dieses Liebes-Plateau auch durch einen entspannten und langsamen Aufstieg nach oben, ohne je auf´s Hochgebirge der Hochverliebtheit gestiegen zu sein, machen stürzen nach dem Hochgebirgstrip der Verliebtheit wieder ins Tal der Ernüchterung ab und das Ganze war dann doch nur ein schönes Strohfeuer ohne eine folgende und bleibende Liebe.

 

 

 

Foto: (c) Dr. med. Stefan Woinoff Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Marianna, 21.07.2022