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Dieser Artikel ist zuerst auf focus.de erschienen.
Ich heiße Susanne, bin 54 Jahre alt und arbeite als Verwaltungsangestellte in einer mittelgroßen Stadt. Nach 22 Jahren Ehe habe ich mich von meinem Mann getrennt – eine Entscheidung, die lange gereift war. Wir waren uns irgendwann mehr Mitbewohner als Liebespaar, und ich wollte nicht mit jemandem alt werden, mit dem ich eigentlich nichts mehr teile, außer das Haus.
Die ersten Monate nach der Trennung waren schwer. Das Alleinsein empfand ich als ungewohnt, fast bedrohlich. Plötzlich war da diese Stille. Niemand, der abends nach Hause kam, niemand, der fragte, wie mein Tag war. Gleichzeitig spürte ich aber auch eine unerwartete Ruhe. Ich begann, wieder Dinge zu tun, die ich früher aufgegeben hatte: Tanzabende, Wandern, ein Töpferkurs. Ich musste erst mal wieder herausfinden, wer ich eigentlich bin, wenn ich nicht Ehefrau bin.
Nach etwa einem Jahr begann ich, mein Single-Dasein zu genießen. Ich lernte, mir selbst Gesellschaft zu leisten. Ich habe angefangen, Sonntage nicht mehr zu fürchten. Ich mache mir ein schönes Frühstück, lese die Zeitung, höre Musik. Und manchmal lade ich Freunde ein oder gehe allein ins Kino – das hätte ich früher nie gemacht.
Doch trotz aller Selbstzufriedenheit taucht manchmal eine leise Sehnsucht auf. Ich vermisse Nähe. Nicht unbedingt eine Beziehung im klassischen Sinn, aber jemanden, der mich wirklich kennt, bei dem ich einfach ich sein kann. Ich hatte mehrere Dates über Onlineportale, hatte auch schöne erotische Begegnungen, aber letztlich war die Erfahrung doch ernüchternd. Viele Männer in meinem Alter suchen eher Bestätigung als Nähe. Manche wollen Abenteuer, andere gleich eine Ersatzfrau. Ich suche keine Abhängigkeit, aber auch kein oberflächliches Geplänkel.
Heute beschreibe ich mich als glücklichen Single mit gelegentlichen melancholischen Momenten. Ich habe gelernt, dass Glück nicht zwingend mit einem Partner verknüpft ist – aber dass es menschlich ist, sich nach Verbundenheit zu sehnen. Ich weiß jetzt, dass ich nicht halb bin, nur weil ich allein bin. Aber manchmal wünsche ich mir, dass jemand da ist, der mich trotzdem komplett sieht.
Können Singles glücklich sein?
Zunächst sollte man klären, was überhaupt mit Single gemeint ist. Gemeint sind Menschen, die keinen festen Partner oder keine feste Partnerin haben – unabhängig davon, ob sie allein leben oder in Gemeinschaften wohnen. Nicht alle, die allein leben, sind automatisch Singles, und nicht jeder Single lebt allein. Viele führen eine Partnerschaft ohne gemeinsamen Haushalt, leben also „living alone – being together“. Statistisch tauchen sie dennoch als Einpersonenhaushalte auf, werden also zu Unrecht in die wachsende Zahl der vermeintlichen Singles eingerechnet.
Zwischen Freiheit und Sehnsucht
Singles können – ebenso wie Menschen in Beziehungen – glücklich, erfüllt und zufrieden leben. Glück ist kein Privileg der Verpartnerten. Dennoch erleben die meisten Singles ihr Alleinsein nicht als Dauerzustand, sondern als Phase. Viele verstehen es als Übergang, als Zeit der Neuorientierung, als selbstgewählte Pause nach dem Ende einer Beziehung oder als bewusst gestaltete Lebensphase, um die eigene Freiheit zu genießen.
Sie erleben die Vorteile des Single-Lebens: niemandem Rechenschaft schuldig zu sein, spontan Entscheidungen treffen zu können, keine Kompromisse über Alltägliches wie Urlaubsziele, Essenszeiten oder Einrichtungsfragen zu führen. Und nicht zuletzt die Freiheit, neue Facetten der eigenen Persönlichkeit zu entdecken – jenseits der Anpassungen, die Partnerschaften oft verlangen.
Wer in einer unglücklichen Beziehung gelebt hat, empfindet das Single-Sein häufig zunächst als Befreiung. Das Gefühl, wieder atmen zu können, steht dann im Vordergrund. Erst später stellt sich heraus, ob diese neue Freiheit dauerhaft als Gewinn empfunden wird – oder ob sich nach einer gewissen Zeit das Bedürfnis nach Nähe, Vertrautheit und Zärtlichkeit zurückmeldet.
Psychologische Perspektive: Einsamkeit, Resilienz und Selbstwert
Ob jemand als Single glücklich ist, hängt stark von der individuellen psychischen Struktur und der Lebensgeschichte ab. Wer verlassen wurde, erlebt die Trennung meist schmerzlicher und bleibt länger im Zustand des „ungewollten Alleinseins“. Wer selbst gegangen ist, empfindet zunächst Erleichterung, manchmal sogar Euphorie. Doch in beiden Fällen stellt sich irgendwann die Frage: Wie gut kann ich mit mir selbst allein sein?
Die Fähigkeit, Alleinsein auszuhalten - oder sogar zu geniessen, ist ein wesentlicher Faktor psychischer Gesundheit. In der Einsamkeitsforschung spricht man von Einsamkeitsresilienz: Manche Menschen besitzen eine hohe innere Stabilität, die sie davor schützt, Einsamkeit als bedrohlich zu erleben. Sie empfinden Alleinsein als Raum für Selbstreflexion, Kreativität und innere Ruhe. Andere dagegen spüren schnell Leere und Verlustgefühle, wenn soziale Resonanz fehlt.
Studien zeigen, dass Frauen im Durchschnitt stärker unter Einsamkeit leiden als Männer – insbesondere in der zweiten Lebenshälfte. Das liegt auch an geschlechtsspezifischen Sozialisationserfahrungen: Frauen lernen häufig, sich über Beziehungen zu definieren, während Männer Autonomie und Unabhängigkeit stärker internalisieren. Doch auch das wandelt sich. Immer mehr Frauen wie Susanne entdecken jenseits der traditionellen Beziehungsbiografie neue Lebensmodelle – selbstbestimmte, solidarische, manchmal auch experimentelle Formen des Miteinanders.
Dauer-Single – Entscheidung oder Selbstschutz?
Dauerhaftes Single-Sein ist seltener eine bewusste Entscheidung als ein Ergebnis biografischer Verletzungen. Viele Menschen haben prägende Erfahrungen hinter sich, die Vertrauen in enge Bindungen erschweren: traumatische Trennungen, emotionale Vernachlässigung in der Kindheit, übergriffige oder manipulative Elternbeziehungen. Wer früh gelernt hat, dass Nähe weh tut oder Kontrolle bedeutet, entwickelt unbewusst Schutzmechanismen, um sich vor neuen Verletzungen zu bewahren.
Manche flüchten in rationale Selbstgenügsamkeit, andere in Aktivismus oder permanente Ablenkung. Wieder andere verwechseln Selbstbestimmung mit emotionaler Unnahbarkeit. Die Folge: Sie wahren Freiheit – und verlieren dabei Nähe. Trotzdem kann das Single-Sein für manche Menschen eine stabile und befriedigende Lebensform werden. Entscheidend ist, ob es gewählt ist – oder ertragen.
Die Entscheidung zählt
Singles können glücklich sein – genauso wie Menschen in Beziehungen. Entscheidend ist, ob das Alleinsein als selbstbestimmter Zustand erlebt wird oder als unfreiwilliger Mangel. Wer sich selbst kennt, wer Nähe zulassen kann, ohne sich darin zu verlieren, und wer lernt, sich selbst ein guter Partner zu sein, der kann auch allein ein sinnerfülltes Leben führen.
Susanne: “Ich bin heute lieber allein als in der falschen Beziehung – aber ich bleibe offen für das, was kommt. Glück heißt für mich auch, nicht mehr abhängig zu sein von jemandem, der mich liebt, sondern mich selbst so anzunehmen und zu mögen, dass ich lieben kann.”
Unser Author: Dr. med. Stefan Woinoff ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in München. Als Psychodramatherapeut, Autor und Beziehungsexperte bei 50plus-Treff begleitet er Menschen in Einzel-, Paar- und Gruppentherapien. Er ist Teil des Focus.de Experts Circle.
Foto: © artmim / stock.adobe.com
Redaktion, 04.12.2025