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Diagnose Brustkrebs als Wendepunkt

Diagnose Brustkrebs als Wendepunkt

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Dieser Artikel ist zuerst auf focus.de erschienen.

Schwere Einschnitte im Leben können die Sicht auf den Alltag von Grund auf verändern. So ging es Maria nach ihrer Krebsdiagnose. Der Facharzt Stefan Woinoff ordnet ihre Geschichte ein.

Ich heiße Maria, bin 58 Jahre alt – und ich kann ehrlich sagen: Ich lebe heute bewusster, freier und selbstbestimmter als je zuvor. Vor drei Jahren hätte ich das nicht für möglich gehalten. Damals erhielt ich die Diagnose Brustkrebs. Der Boden tat sich unter mir auf, und plötzlich war nichts mehr selbstverständlich: nicht mein Körper, nicht meine Zukunft, nicht einmal das Aufstehen am Morgen. Doch rückblickend war diese Krankheit – so paradox es klingt – der Wendepunkt meines Lebens.

Während der Behandlung, in den langen Wochen zwischen Operation, Chemo und Bestrahlung, war ich gezwungen, innezuhalten. Ich konnte nicht mehr funktionieren wie früher, musste Dinge abgeben, Kontrolle loslassen. Anfangs war das schrecklich – ich war immer die, die alles im Griff hatte: den Haushalt, den Job, die Familie, die alten Freunde. Doch plötzlich war da Stille. Und in dieser Stille begann etwas Neues.

Ich begann, mich zu fragen, was in meinem Leben eigentlich noch Platz hatte – und was nicht. Viele Dinge, die ich früher wichtig fand, schienen plötzlich leer: beruflicher Ehrgeiz, Perfektion, die Angst, was andere von mir denken. Ich merkte, dass ich mich jahrelang für andere verbogen hatte, um Erwartungen zu erfüllen, die gar nicht meine waren.

Nach der Behandlung kam eine Zeit, in der ich mich fast wie eine Fremde in meinem eigenen Leben fühlte. Doch genau das war die Chance: Ich durfte neu anfangen. Ich habe mir damals gesagt: Wenn ich das überlebt habe, dann will ich auch wirklich leben.

Ich begann, kleine Dinge wieder wertzuschätzen. Einen Kaffee auf dem Balkon in der Morgensonne. Ein Spaziergang durch den Park ohne Ziel. Gespräche, die nicht oberflächlich waren, sondern echt. Ich lernte Menschen kennen, die ich früher nie getroffen hätte – in einer Selbsthilfegruppe, beim Yoga, später in einem Malkurs. Diese neuen Freundschaften sind anders: ehrlicher, tiefer, freier von Rollenspielen. Wir reden über Ängste, über Wünsche, über das, was uns wirklich bewegt.

Gleichzeitig habe ich mich von alten Freundschaften verabschiedet. Manche Menschen konnten mit meiner Krankheit und meinem Wandel nicht umgehen. Sie wollten die „alte Maria“ zurück – die, die immer lachte, alles organisierte, keine Schwäche zeigte. Aber die gibt es nicht mehr. Und das ist gut so.

Heute arbeite ich nur noch halbtags, habe meine Stunden reduziert, um mehr Zeit für mich zu haben. Ich engagiere mich ehrenamtlich in einer Beratungsstelle für Frauen mit Brustkrebs. Wenn ich dort anderen Mut machen kann, spüre ich Sinn. Ich sehe in ihren Augen oft dieselbe Angst, die ich damals hatte – und ich weiß, dass ich etwas geben kann, das man nicht in Büchern findet: gelebte Erfahrung.

Natürlich ist nicht jeder Tag leicht. Ich habe Narben – sichtbar und unsichtbar. Manchmal macht mir die Angst vor einem Rückfall zu schaffen, manchmal zwickt der Körper, manchmal ist einfach alles zu viel. Aber ich kann damit umgehen. Ich nehme es an, ohne mich darin zu verlieren. Ich habe gelernt, dass das Leben nicht perfekt sein muss, um schön zu sein.

Heute weiß ich, was mir guttut: Zeit in der Natur, ehrliche Gespräche, Bewegung, Stille. Ich erlaube mir, Nein zu sagen. Ich mache Pausen, ohne Schuldgefühle. Ich traue mich, Wünsche auszusprechen, und manchmal auch einfach nichts zu müssen.

Wenn ich zurückblicke, sehe ich nicht nur die Krankheit – ich sehe eine Frau, die sich selbst neu gefunden hat. Ich bin dankbar, dass ich heute klarer sehe, was im Leben wirklich zählt: Gesundheit, Liebe, Freundschaft, Freiheit. Und der Mut, sich selbst treu zu bleiben.

Ich lebe jetzt. Nicht mehr später, nicht mehr irgendwann. Jetzt.

 

Nachhaltig traumatisiert oder gestärkt für ein besseres Leben?

 

Schwere Einschnitte im Leben können die Sicht auf den Alltag von Grund auf verändern. Ob nachhaltige Einschränkungen oder ein gewisser Gewinn an Weisheit entsteht, hängt stark von der eigenen Widerstandskraft ab, also der eigenen Resilienz. Das ideale Ergebnis wäre, trotz vorübergehender Erschütterung wieder zur ursprünglichen Stabilität zurückzufinden und gleichzeitig eine wertvolle Erkenntnis mitzunehmen: Das Leben ist begrenzt, aber von unvergleichlichem Wert.

Machtvolle Einsicht entsteht vor allem, wenn die eigene Existenz oder die eines geliebten Menschen gefährdet wird – oder bereits ein Verlust eingetreten ist. Auch wenn viele diese Botschaft im Laufe eines unbeschwert weitergehenden Alltags wieder vergessen, führt fortschreitendes Alter oft zu einer ähnlichen Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit.

 

Leben mit Endlichkeit im Bewusstsein

 

Wer vor Augen hat, dass jede Stunde ein Geschenk ist, nimmt vieles im Alltag gelöster. Streitigkeiten oder Ärgernisse verlieren an Bedeutung. Dennoch lastet das ständige Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit schwer. Deswegen ist es ein typisches menschliches Verhaltensmuster, dieses Thema zu verdrängen. Auf diese Weise verhindert das Unbewusste, dass Ängste rund um den Tod den Alltag überrollen. Religiosität und philosophische Überlegungen greifen genau hier an: Sie sollen die Frage nach Sinn und Sterblichkeit beantworten.

Der Tod bleibt dennoch für viele unbegreiflich und wer sich zu intensiv mit ihm auseinandersetzt, braucht enorme seelische Stärke. Ich glaube sogar, dass bestimmte psychische Erkrankungen daher rühren können, dass dieser Verdrängungsmechanismus nicht mehr greift und dadurch die Bewältigung des Alltags einen vollkommen überfordert.

 

Erkenntnis suchen und wieder vergessen

 

Das stete Gefühl der Endlichkeit kann niemand dauerhaft aufrechterhalten. Doch die Einsicht, wie wertvoll jeder Moment ist, kann ein Leben lang tragen. Die erschütternde Erfahrung eines Schicksalsschlags kann dieses Empfinden verstärken und zu einer tiefen Dankbarkeit führen. Häufig mischen sich Demut und Bewunderung für das Wunder des Daseins dazu: eher ein Gespür für die eigene Unbedeutendheit als ein übermächtiges Gefühl, dem Tod auf Augenhöhe gegenüberzutreten.

Da das menschliche Gehirn jedoch auf den Alltag fokussiert ist, übernimmt schnell wieder eine Art Schutzmodus die Regie im Hirn. Das große Ganze wird meist an Priester, Philosophen oder andere Denker „ausgelagert“, weil die permanente Besinnung auf die Endlichkeit eine enorme Last darstellt und wir im Klein-Klein des täglichen Lebens  besser bestehen.

 

Dem Tod ausweichen und im Heute leben

 

Die Fähigkeit, Augenblicke intensiv zu genießen, gründet oft auf dem Bewusstsein, dass jeder Tag einmalig ist. Der Mensch ist jedoch nicht darauf ausgelegt, ständig um seine Endlichkeit zu kreisen. Wer sich unaufhörlich damit beschäftigt, riskiert eine Art Überbelastung. In vielen Fällen ist es daher ein Geschenk, dass unser Alltag uns wieder einholt, denn das schützt uns vor anhaltender Todesangst. Sich auf das Wesentliche zu besinnen ist sinnvoll, doch ein gänzlich ununterbrochenes Endlichkeitsgefühl würde den normalen Lebensfluss vermutlich eher blockieren.

 

„Deine Probleme möchte ich haben“

 

Beispiele aus dem Straßenverkehr zeigen oft, wie leicht Menschen sich in Nebensächlichkeiten verbeißen. Wer sich über vermeintlich fahruntaugliche Verkehrsteilnehmer aufregt, kann damit unbewusste Aggressionen an ihnen ablassen. Das ist kein Privileg, sondern eher ein kindliches Verschieben der eigenen Wut über Beruf, Beziehung oder Nachbarschaft.

In solchen Momenten geht wertvolle Lebenszeit verloren, weil statt Gelassenheit und Freude nur Ärger bleibt. Wer dagegen spürt, wie kostbar jeder einzelne Augenblick ist, legt die aufgestaute Wut ab und nutzt die Energie, um eine zufriedenere Haltung im Alltag einzunehmen.

 

Unser Author: Dr. med. Stefan Woinoff ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in München. Als Psychodramatherapeut, Autor und Beziehungsexperte bei 50plus-Treff begleitet er Menschen in Einzel-, Paar- und Gruppentherapien. Er ist Teil des Focus.de Experts Circle. 

 

Foto:  © Keddy / stock.adobe.com 

Redaktion, 13.11.2025